Nichtklassische Kristallisation

Forschungsbericht (importiert) 2003 - Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung

Autoren
Cölfen, Helmut
Abteilungen
Kolloidchemie (Prof. Dr. Markus Antonietti)
MPI für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Potsdam
Zusammenfassung
Die Untersuchung von Kristallisationsvorgängen ist eine klassische Fragestellung in der Wissenschaft. Kristalle sind aus Ionen oder Molekülen aufgebaut und haben eine kleinste Einheit, die so genannte Einheitszelle. Alle Kristallformen lassen sich aus dieser ableiten, d. h., "normale" Kristalle weisen definierte planare Flächen auf. In letzter Zeit hat die Untersuchung von Biomineralien (von lebenden Organismen gebildete Mineralien wie z. B. die Skelettgerüste von Algen) allerdings nahe gelegt, dass nicht alle Kristalle in das klassische Lehrbuchbild passen. Diese Kristalle weisen Formen mit komplexer Gestalt auf, die sogar untypische Rundungen beinhalten und damit von den planaren klassischen Kristallflächen abweichen. Des Weiteren sind Biomineralien meist hoch optimierte Verbundwerkstoffe wie z.B. Knochen, Zähne oder Muschelschalen. Dies wird durch Steuerung des Kristallisationsvorgangs durch strukturdirigierende Moleküle erreicht. Dabei werden diese Kristalle im Regelfall nicht nach den Prinzipien der klassischen Kristallisation gebildet, d.h. durch regelmäßige Anlagerung der Einzelbausteine (Ionen und Moleküle). Die Projektgruppe "Biomimetische Mineralisation" versucht die nicht klassischen Aufbauprinzipien sowie die Steuerung von Kristallisationsvorgängen durch strukturdirigierende Additive nachzuahmen und zu verstehen. Dadurch können nicht nur Biomineralisationsvorgänge aufgeklärt werden, sondern es werden auch neue Wege der umweltfreundlichen Materialsynthese mit biokompatiblen Komponenten etabliert.

Ausgangspunkt der Forschung

Die klassische Lehrbuchmeinung betrachtet die Kristallisation als eine spontane Phasenseparation einer an Ionen oder Molekülen übersättigten Lösung in eine feste Phase. Diese besteht aus dem Kristall und einer überstehenden Lösung, deren Konzentration dem so genannten Löslichkeitsprodukt der Substanz für die spezifischen Kristallisationsbedingungen entspricht. Dabei bildet sich zunächst ein so genannter kritischer Kristallkeim aus, der die kleinste Einheit darstellt und von dem aus ein Kristall weiter wachsen kann [1]. An diesen Keim lagern sich dann weitere Ionen oder Moleküle an, bis deren Übersättigung in der überstehenden Lösung und damit die Triebkraft für die Kristallisation verschwindet (siehe auch Abb. 6 links). Der so gebildete Kristall ist ein Vielfaches seiner kleinsten Einheit, der so genannten Einheitszelle und weist damit planare Flächen auf, die wohldefinierte Winkel zueinander haben. Dabei kann man nach einem bereits Anfang des letzten Jahrhunderts von G. Wulff etablierten Modell [2] sogar die Gestalt eines Kristalls vorhersagen. Die thermodynamische Betrachtungsweise entspricht allerdings nur im Ausnahmefall der Realität, da Kristallisationsvorgänge oft kinetisch gesteuert sind und des Weiteren eine Vielzahl von Faktoren wie Fehlstellen oder Schraubenversetzungen eine Rolle spielen. Daher ist bereits bei klassischen Kristallisationsvorgängen die Gestalt eines Kristalls nicht immer vorhersagbar.
Komplizierter wird die Situation in Gegenwart gelöster Komponenten, die mit den wachsenden Kristallflächen in Wechselwirkung treten können. Wenn sich diese Substanzen an bestimmte Kristallflächen anlagern, wird deren Grenzflächenenergie niedriger, sodass diese Kristallflächen exponiert werden. Dies ist die einfachste Strategie, die Gestalt eines Kristalls zu verändern und wird auch in der Natur angewandt. So werden z. B. die Kalkplättchen im Perlmutt einer Muschelschale durch Anlagerung von löslichen Proteinen in der Art beeinflusst, dass alle Plättchen eine untypische Kristallfläche exponieren. Die weitere Anordnung dieser Plättchen in einer Art Ziegelsteinprinzip innerhalb einer weichen Gerüstmatrix aus Kohlenhydraten und Proteinen sorgt für die außergewöhnliche Bruchfestigkeit der Muschelschale. Diese ist tausendmal bruchfester als Kalk, aus dem sie zu 95 % besteht. Solche Materialeigenschaften wären auch für eine neue Generation von Baustoffen wünschenswert.
Darüber hinaus ist die Biomineralisation bis heute noch weitgehend unverstanden. Das begründet sich hauptsächlich aus der Komplexität natürlicher Systeme. Diese beinhalten eine Strukturierung organischer und anorganischer Komponenten über mehrere Größenordnungen vom nanoskopischen bis in den makroskopischen Größenbereich und oft auch Synergieeffekte in Multikomponentensystemen. Die Aufklärung und gezielte Steuerung dieser Kristallisationsvorgänge ist daher eine wichtige und mittlerweile intensiv bearbeitete Aufgabe der aktuellen Wissenschaft, die interdisziplinäres Arbeiten zwischen Chemikern, Physikern, Biologen und Medizinern erfordert. Denn nicht nur die Herstellung von zukünftigen Hochleistungsmaterialien oder biokompatiblen Implantatmaterialien, sondern auch die Heilung von Krankheiten wie der Osteoporose oder der spontanen Mineralisierung von Geweben hängt entscheidend von Erkenntnissen dieser Forschung ab [3].

Konzept

Aufgrund der Komplexität biologischer Systeme untersuchen wir zunächst vereinfachte Modellsysteme. In unserer Projektgruppe sind das so genannte doppelthydrophile Blockcopolymere (DHBC), d. h. Makromoleküle, die aus zwei chemisch verschiedenen verknüpften Einheiten (Blöcken) bestehen [4]. Diese sind in ihrer Struktur ähnlich aufgebaut wie Seifenmoleküle, wobei ein Teil lediglich die Wasserlöslichkeit herstellt und der andere Teil an einer spezifischen Kristalloberfläche "haftet". Dieses Konzept ist in Abbildung 1 verdeutlicht. Diese Makromoleküle sind ein einfaches Modellsystem für aktive Proteine in der Biomineralisation, die oft blockartige saure und wasserlösliche Einheiten aufweisen.

Steuerung der Kristallisation durch selektive Adsorption

Mit diesen Molekülen lassen sich zum einen nanometergroße anorganische Baueinheiten temporär in wässriger Lösung stabilisieren, aus denen später eine komplexe Überstruktur zusammengesetzt werden kann. Zum anderen kann der funktionelle Block chemisch so ausgestattet werden, dass er sich optimal an bestimmte Kristallflächen anpasst und so die Kristallgestalt bereits auf der Nanometerskala direkt steuert. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist in Abbildung 2 gezeigt, wo der funktionelle DHBC-Block ein steifes Ringsystem ist, welches in Größe und Geometrie mit den wechselwirkenden Stickstoffatomen exakt auf die 111-Fläche von Gold passt. Die Folge ist, dass durch bevorzugte Exposition dieser Fläche nur wenige Atomlagen dicke Goldplättchen hergestellt werden konnten [5]. Dieses Beispiel zeigt weiterhin, dass sich unter Umständen die Kristallform nach Adsorption funktioneller Additive bereits durch Computerberechnungen vorhersagen lässt - eine wichtige Zielsetzung zukünftiger Forschungen.

Überstrukturbildung durch kristallographische Fusion

Durch eine gezielte Adsorption von funktionellen Makromolekülen an bestimmte Kristallflächen können die Oberflächen von Nanopartikeln energetisch derart verändert werden, dass nur noch wenige höherenergetische Kristallflächen zurückbleiben. Diese können ihre Energie durch das "Oriented Attachment" so verringern, dass diese Flächen kristallographisch verschmelzen [6]. Bleiben nur noch zwei derartige hochenergetische Kristallflächen zurück, so bilden sich für das System BaSO4 (Schwerspat) durch den oben genannten Prozess Fasern, die ihrerseits durch gegenseitige laterale Anziehung komplexe Faserbündel bilden können (Abb. 3 links) [7]. Diese sind signifikant verschieden von der normalen Tracht des Schwerspats, die in Abbildung 3 rechts gezeigt ist. Bei diesen Strukturen ist besonders interessant, dass die Kristalle über eine unstrukturierte (amorphe) Vorstufe gebildet werden und nicht über die Anlagerung von Ionen nach dem klassischen Kristallisationsbild.

Für die Bildung komplexer kristalliner Überstrukturen über amorphe Vorläuferphasen existieren inzwischen viele Beispiele, sowohl aus der Bio- als auch aus der biomimetischen Mineralisation [8]. Dies impliziert, dass weitere Kristallisationsmechanismen neben dem klassischen molekularen Wachstum existieren, die noch weitgehend unaufgeklärt sind.

Codierung der Überstrukturierung durch selektive Adsorption von Makromolekülen

Oft sind die Kristallflächen aber nicht hochenergetisch genug, um kristallographisch zu Einkristallen zu fusionieren. In diesem Fall lassen sich komplexe Überstrukturen von Kristallen durch selektive Adsorption an einige wenige Kristallflächen der nanokristallinen Baueinheiten "codieren". Ein eindrucksvolles Beispiel ist die spontane Bildung von helikalen Überstrukturen aus stäbchenförmigen Nanokristallen von BaCO3 (Abb. 4) [9].

Mesokristalle

Geht man von anorganischen Ionen-Kristallen mit hoher Gitterenergie zu organischen Molekülkristallen mit wesentlich niedrigerer Gitterenergie über, so lassen sich erstmalig Übergangsstrukturen - so genannte Mesokristalle - isolieren, die noch nicht durch die Fusion der Baueinheiten zu einem Einkristall gekennzeichnet sind. Ein Beispiel hierfür sind die Mesokristalle von D, L-Alanin, die eine Zwischenstellung zwischen einem Einkristall und einem polykristallinen Material darstellen, was sich durch Röntgenbeugung zeigen lässt (Abb. 5) [10]. Diese Kristalle erscheinen unter normaler lichtmikroskopischer Vergrößerung wie Einkristalle mit wohldefinierten Kristallflächen. Bei hoher Vergrößerung (Abb. 5 rechts) erkennt man aber klar tektonische Untereinheiten, die den Mesokristall durch nahezu perfekte Orientierung in drei Dimensionen aufbauen. Solche Kristalle entstehen also nicht durch die klassische Anlagerung von Molekülen zu einem Kristall, sondern werden durch die dreidimensionale Anordnung von nanoskopischen Baueinheiten gebildet.

Erweitertes Bild der Kristallisation

Insgesamt konnte schon jetzt das klassische Bild der Kristallisation (Abb. 6 links), unter anderem durch unsere Untersuchungen, um zwei Kristallisationsszenarien erweitert werden, der strukturdirigierten Kristallfusion und der Mesokristallbildung (Abb. 6 Mitte, rechts).

Von diesen neuen nichtklassischen Kristallisationsszenarien erhoffen wir uns in Zukunft neue Erkenntnisse über die Entstehung komplexer Kristallgestalten und Biomineralien sowie die Entwicklung neuer Syntheseinstrumente zur Gestaltung auf der Nanoskala, wie sie für die Entwicklung neuer Wirkstoffformulierungen, neuer Pigmente sowie von organisch-anorganischen Hochleistungsverbünden nützlich sein könnten.

Literatur

[1] J. W. Mullin: Crystallization, Butterworth-Heinemann, Oxford 2001.

[2] G. Wulff: Zeitschrift für Kristallographie 34, 449-480 (1901).

[3] M. Epple: Biomaterialien und Biomineralisation, Teubner Verlag, Stuttgart 2003.

[4] H. Cölfen: Macromolecular Rapid Communications 22, 219-252 (2001).

[5] S. H. Yu, H. Cölfen, Y. Mastai: Journal of Nanoscience and Nanotechnology 4, 291-298 (2004).

[6] R. L. Penn, J. F. Banfield: Geochimica et Cosmochimica Acta 63, 1549-1557 (1999).

[7] S. H. Yu, M. Antonietti, H. Cölfen, J. Hartmann: Nano Letters 3, 379-382 (2003).

[8] H. Cölfen, S. Mann: Angewandte Chemie International Edition 42, 2350-2365 (2003).

[9] S. H. Yu, H. Cölfen, K. Tauer, M. Antonietti: eingereicht 2004.

[10] S. Wohlrab: Dissertation, Universität Potsdam 2004.

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