"Medikamente wie am Fließband"
Efavirenz, eines der wichtigsten HIV-Medikamente, kann jetzt mithilfe eines neu entwickelten Verfahrens der kontinuierlichen Durchflusschemie möglicherweise schneller, kostengünstiger und weniger umweltbelastend hergestellt werden.
Forschern des Max-Planck-Institutes für Kolloid- und Grenzflächenforschung (MPIKG) und der Freien Universität Berlin ist es in den vergangenen Wochen gelungen, gleich mehrere Schritte auf dem Weg zu neuen, besseren und kostengünstigeren Produktionsmethoden für Arzneiwirkstoffe zurückzulegen. Dies ist speziell für das AIDS-Medikament Efavirenz von Bedeutung, das häufig als Baustein einer Kombinationstherapie gegen die Immunschwächekrankheit genutzt wird. Die kontinuierliche Durchflusschemie hat außerdem das Potential, die pharmazeutische Produktion von Wirkstoffen grundlegend zu verändern.
Bisher wurde für jeden Arzneiwirkstoff jeweils eine spezifische Produktionslinie entwickelt. Dies geschah mithilfe des sogenannten „Batch“-Verfahrens. Das bedeutet, dass sich alle Reagenzien in einem einzigen Gefäß (Batch) befinden und die Reaktion wie in einem „Kochtopf“ stattfindet. Bei kontinuierlichen Durchflussverfahren läuft die Reaktion, da alles unablässig fließt, in Rohren ab. Auf diese Weise können viel geringere Mengen an Chemikalien sicherer und effizienter miteinander reagieren.
Durchflusschemie, auch „Flow Chemistry“ genannt, hat dadurch einen entscheidenden Vorteil im Vergleich zu anderen Verfahren. Der Wirkstoff kann schneller produziert werden und oft auch kostengünstiger. Auch wenn die Reaktionsmengen geringer sind, gilt prinzipiell: Wenn man einen Eimer unter einen tropfenden Wasserhahn stellt, wird auch dieser voll. Weil die Reaktionen im Durchflussreaktor schneller ablaufen, wird bei Batch (langsam) und Flow (schnell) also ähnlich viel Wirkstoff produziert. Der Aufwand für die Durchflusschemie ist aber geringer, und die Reaktionen sind besser zu kontrollieren.
Vor der kontinuierlichen Herstellung von Efavirenz war dem Team um Prof. Dr. Peter H. Seeberger kurz zuvor zum ersten Mal die Synthese von fünf verschiedenen Standard-Wirkstoffen in einem einzigen modular aufgebauten Reaktor gelungen. Es handelt sich unter anderem um Lyrica, Glabapentin und Baclofen, die gegen Angststörungen, Epilepsie und spastische Lähmung eingesetzt werden. Der Umsatz dieser drei Medikamente beträgt etwa fünf Milliarden Euro. Die fünf synthetisierten Arzneistoffe gehören drei verschiedenen Wirkstoffklassen an, den y-Aminosäuren, y-Lactamen und β-Aminosäuren. Alle konnten im selben Durchflussreaktor hergestellt werden, je nachdem welche Module in welcher Reihenfolge zugeschaltet wurden.
Das neue Verfahren ähnelt der Fließbandproduktion. Den Wissenschaftlern des Max Planck Institutes für Kolloid und Grenzflächenforschung und der Freien Universität Berlin gelang es, zum ersten Mal ein vergleichbares Verfahren für die Produktion wichtiger Arzneimittel anzuwenden. Wenn man bedenkt, welche Bedeutung die Fließbandproduktion für die Industriefertigung hatte, werden die möglichen Auswirkungen dieser auf den ersten Blick allein „akademischen“ Methodenänderung klarer.
Prof. Dr. Peter H. Seeberger betont: „Wir glauben, dass unsere modularen Flow-Verfahren die Herstellung von Medikamentenwirkstoffen fundamental verändern werden. Und das gilt nicht nur für Efavirenz. Der nächste Entwicklungsschritt wird die Fertigung industrieller Mengen sein.“
Der Leiter der Arbeitsgruppe „Durchflusschemie“, Dr. Kerry Gilmore unterstreicht: „Das Revolutionäre unserer Entwicklung liegt nicht in der schrittweisen Verbesserung der Durchflussreaktoren. Entscheidend ist die konzeptionelle Sprunginnovation, verschiedene Standard-Wirkstoffe in einem einzigen modularen Reaktor herzustellen, statt fünf verschiedene Produktionsanlagen bauen zu müssen.“
Beim HIV-Medikament Efavirenz haben es die Forscher mit dem neuen, kontinuierlichenVerfahren geschafft, die Herstellung stark zu vereinfachen. Sie verwendeten neuartige, günstige Kupferverbindungen als Katalysatoren und konnten bisher übliche toxische Substanzen überflüssig machen, z.B. Phosgen, das als militärisches Giftgas berüchtigt ist.
Dr. Camille Correia, Forscherin am MPI aus dem südamerikanischen Karibikstaat Guyana, stellt fest: „In nur drei chemischen Schritten konnten wir den Wirkstoff in weniger als zwei Stunden herstellen. Das ist nach bestem Wissen der schnellste Weg. Efavirenz ist leider oft noch zu teuer, um in Entwicklungsländern eingesetzt werden zu können. Wir hoffen, dass unsere Arbeit dazu beiträgt, das lebensverlängernde Efavirenz und andere Medikamente kostengünstiger werden zu lassen.“